Geschichte und Politische Bildung: von oben, von unten, von vielen?
- Kann ein anderer Blick auf die Geschichte auch einen Perspektivenwechsel in der Politischen Bildung bringen?
- Welchen Unterschied macht es eigentlich, ob die Geschichte von oben oder von unten erzählt wird?
- Wie würden wir unseren Alltag in der Gegenwart verstehen, wenn wir die Geschichte nicht von “oben” erzählt bekommen hätten?
Die europäische Geschichte ist mit Namen von Herrschenden und Jahreszahlen wichtiger Schlachten gespickt. Diesen historischen Verlauf nehmen wir für selbstverständlich. Eben auch, weil er uns im Geschichtsunterricht noch immer so vermittelt wird. Die Alltagsgeschichte wird in der relativ jungen geschichtswissenschaftlichen Disziplin “Geschichte von unten” – oder auch “Geschichte der vielen” beleuchtet – und genau diese wollen wir uns in dieser Folge ansehen.
Ein neues Selbstbewusstsein
Historiker:innen glauben, dass eine Erzählung aus anderer Perspektive ein neues Selbstbewusstsein geben könnte. Emanzipierten sich alle Menschen, die bisher nicht erwähnt oder ganz vergessen wurden, hätte das große Auswirkungen – auch im Geschichtsunterricht. Magdalena Osawaro sagt, dass sich der Geschichtelehrplan zwar schon gebessert hat, aber noch immer ein großes Manko hat: Es gibt zu viele Schlupflöcher für heiklere geschichtliche Themen.
… man braucht einen Längsschnitt durch die Geschichte der Sklaverei, es soll quasi mal erwähnt werden. Andererseits kann man dann sagen, na ja, ich habe Sklaverei in der Antike behandelt. Das ist irgendwie noch ein bisschen weiter weg von uns und von dem, was einen Einfluss auf unser Menschenbild hat, eben mit der ganzen Rassismusgeschichte.
Lehrer:innen, die im Schulalltag eine “Geschichte von unten” erzählen wollen, brauchen viel Engagement und Eigeninitiative. Unterrichtsmaterialien kritisch beleuchten oder sich bemühen, den Lehrplan entsprechend zu interpretieren, ist nicht selbstverständlich. Viel mehr ist noch immer ein klassischer Blick auf die Geschichte Usus. Aber – warum braucht es überhaupt einen anderen Blick? Und was hat er mit Politischer Bildung zu tun?
Ein kritischer Blick
Steht die “Geschichte von unten” mit ihren unterschiedlichen Perspektiven in Konkurrenz mit den Geschichtserzählungen, wie wir sie kennen? Eher nicht – es geht vielmehr darum, den bestehenden Stoff neu zu interpretieren – auch in Politischer Bildung, sagt Florian Wenninger:
Eine Geschichte von unten macht Sinn, wenn man sich kritisch mit Handlungen der Obrigkeit beschäftigen möchte. Beispielsweise: weil momentan der Ukraine Krieg tobt, war es wichtig, den Berichten der Generalstäbler und der Presse die Wahrnehmungen einfacher Soldat:innen und betroffener Zivilist:innen gegenüberzustellen, um den Krieg in seiner vollen Dimension fassbar zu machen. Was bedeutet das für die Menschen, die dieser unmittelbaren Gewalt ausgesetzt sind?
Die klassische Geschichte ist, wenn man so will, verfälscht. Ein Beispiel: Lesen wir über die Antike oder das Mittelalter, dann lesen wir das, was die Sieger der Nachwelt erhalten wollten. Ein Teil der Geschichte waren aber immer auch nicht so Privilegierte und Unterdrückte.
Geschichte ist in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft mehr als die reine Nacherzählung der Vormachtstellung westlicher Herrscher. Vielmehr ist Geschichte die Summe individueller Erzählungen. Wichtig ist, den Schüler:innen einen kritischen Umgang mit historischen Quellen mitzugeben. Nur so können Zusammenhänge in der Gegenwart besser verstanden werden.
Die Gegenwart besser verstehen
Ein Perspektivenwechsel im Unterricht, weg vom Eurozentristischen, ist oft gar nicht so einfach, sagt René Hanzlik. Wie so oft ist es eine Frage der Ressourcen:
Ich könnte jetzt schon sagen, was ich alles wichtig finde, aber der Schulalltag gibt halt zwei Stunden Geschichte her. Dann muss man mit sich vereinbaren, warum man das eine jetzt anschneidet oder nicht.
Bei der “Geschichte von unten” geht es nicht um den Feldherrn, sondern den einfachen Soldaten. Es geht nicht um die Gutsherrin sondern die Sklavinnen, die ihr Land bewirtschaften. Kurzum, es geht nicht um die Eliten, sondern das breite Volk, Minderheiten, Unterdrückte oder schlichtweg “normale” Menschen und deren Alltag. Erst durch ihren Blick auf historische Ereignisse bekommen wir ein anderes, vollständigeres Geschichtsverständnis. Das wiederum hilft uns, auch die Gegenwart besser zu verstehen. Christian Pöltl-Dienst sagt:
Geschichte wird von vielen geschrieben und im Schulbuch haben wir eine Version davon. Das heißt, es gibt auch andere Versionen und andere Perspektiven zu bedenken.
Richtig oder Falsch?
Es ist richtig, dass voraussichtlich auch in Zukunft große Teile der Geschichte “von oben” geschrieben werden. Umso wichtiger ist es, diese Erzählungen in Geschichte & Politischer Bildung kritisch zu hinterfragen. Es wäre falsch zu glauben, dass das, was im Geschichtsbuch steht, die objektive und repräsentative Nacherzählung der Vergangenheit ist. Vielmehr braucht es eine Interpretation und kritische Einordnung “von unten”. Wer das einmal gelernt hat, wird wohl auch aktuelle Quellen hinterfragen – und nicht zuletzt mit einem neuen Blick auf die Geschichte schauen.
Zu Gast in dieser Podcast Folge sind:
- René Hanzlik (Lehrer in der Anton-Kriegergasse in Wien)
- Magdalena Osawaro (Inklusionslehrerin an einer Mittelschule in Wien, Black Voices Anti Rassismus Volksbegehren und Studentin)
- Christian Pöltl-Dienst (PolEdu, Lehrer am GRG23 und an der Universität Wien)
- Florian Wenninger (Institut für Historische Sozialforschung, Wien)
Linktipps:
- polis aktuell 1/2022: De-/Kolonisierung des Wissens
- Dirk Lange: Die Alltagsgeschichte in der historisch-politischen Didaktik. Zur politischen Relevanz alltagsorientierten Lernens
- Oral History als Beitrag zur Geschichte von unten
- Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien
Redaktion: Patricia Hladschik, Nina Schnider, Karl Schönswetter und Ambra Schuster
Hören Sie hier eine weitere Folge von Richtig und Falsch: Über Krieg & Frieden reden – Aufklärung statt Alarmismus
Alle Folgen finden Sie hier.
Richtig und Falsch ist ein Kooperation von Zentrum Polis – Politik lernen an der Schule, der Arbeiterkammer Wien und Demokratie21.
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