Niemals vergessen! Erinnerungslernen zur Stärkung demokratischer Grundhaltungen
Junge Menschen wachsen heutzutage in den meisten Fällen ohne Verwandte auf, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust noch erlebt haben. Sie kennen Nationalsozialismus und Holocaust also in erster Linie aus dem Geschichtsunterricht. Die direkte familiäre Betroffenheit – egal, ob drüber in einer Familie nun gesprochen wurde oder nicht – fällt zumeist weg.
Mit dem 7. Oktober 2023, dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel und dem darauf folgenden Krieg im Gaza-Streifen, erfährt der antiisraelische Antisemitismus einen neuen Höhepunkt. Das Erinnerungslernen in Österreichs Schulen steht vor enormen Herausforderungen.
Wie legen Gedenkstätten und Gedenkorte ihre Bildungsarbeit an? Wie stellen sie die Verbindung zur Lebenswelt der Jugendlichen her? Und wie wirken sich aktuelle Ereignisse wie der Krieg im Gazastreifen darauf aus? All das wollen wir uns in dieser Folge ansehen.
Für diese Podcast Folge haben wir mehrere Erinnerungsstätten in Oberösterreich besucht: Mauthausen, das “GehDenken” in Ansfelden und den “Stollen der Erinnerung” im Museum Arbeitswelt in Steyr.
Gegenwartsorientierung und Zukunftsbilder
In Österreich gibt es eine lange Tradition der historisch-politischen Bildung. Sie geht über die rein historische Bildung hinaus, denn sie soll den SchülerInnen die Fähigkeit vermitteln, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Sie sollen historische Quellen einordnen können und ein Verständnis dafür entwickeln, dass sich unsere Sichtweise auf die Vergangenheit laufend ändert und viel mit unserer Gegenwart zu tun hat. Im besten Fall führt das dazu, dass wir uns besser in der Gegenwart orientieren und auch Zukunftsbilder entwickeln können.
Es geht um das historische Lernen, aber in der sogenannten post nationalsozialistischen Gesellschaft in Österreich ist das Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust schon auch immer mehr- der gesellschaftspolitische Kontext bei dem Thema ist einfach ein anderer. Es gibt sehr hohe Erwartungen, die an die Auseinandersetzung mit dem Thema gestellt wird, seitens der Politik, seitens der Gesellschaft.
Patrick Siegele
Patrick Siegele ist Geschäftsführer von ERINNERN:AT, einer pädagogische Serviceeinrichtung, die sich mit der Holocaust Education, also dem Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigt. Neben dieser Fachstelle gibt es eine Vielzahl von Gedenkprojekten, die ebenfalls Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit leisten. Und auch zivilgesellschaftlich aktive Einzelpersonen sind in dem Feld aktiv. Sie alle haben ein gemeinsames Ziel: Die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten, um für die Zukunft zu lernen. Aber geht das überhaupt? Und wie macht man diese sensible Arbeit richtig?
Gedenkstätte: Landmarken für die Erinnerungsarbeit
In ganz Österreich gibt es unzählige Schauplätze von NS-Verbrechen. Gedenkstätten sind deshalb besondere Landmarken für die Erinnerungsarbeit.
Gudrun Blohberger ist verantwortlich für die pädagogische Leitung der Gedenkstättenführungen und Workshops an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Sie erklärt, warum ein konkreter Ort so große Relevanz hat:
Also der Ort ist zugleich so etwas wie ein Beweis, dass es diese Verbrechen tatsächlich gegeben hat.
Gudrun Blohberger
Durch den Besuch eines Erinnerungsortes können Kinder und Jugendliche leicht lokale Bezüge herstellen und Verhältnisse erkennen. Wie weit ist das von mir zuhause weg?
Großteils erfahren auch die Eltern das erste Mal, dass Ansfelden eine Todesmarsch-Gemeinde ist und der Nachbarort Pucking und der Nachbarort Enns, und dass sich gerade die Spur des Todesmarsches wie eine rote Blutspur durch Oberösterreich zieht.
Hermine Hauer
Hermine Hauer ist Lehrerin an der Volks- und Mittelschule Ansfelden. Sie organisiert vor Ort das jährliche “GehDenken”.
In Österreich hat das Erinnerungslernen einen besonderen Stellenwert, der weit über das rein historische Lernen hinausgeht. Erinnerungsorte im ganzen Land helfen bei der Vermittlung von dem, was passiert ist. Und sorgen für eine Eindrücklichkeit, die niemanden kalt lässt. Bei solchen Besuchen werden auch Schülerinnen und Schüler neugierig und beginnen, die Geschichte ihres eigenen Ortes zu hinterfragen. Umso wichtiger ist es, den Besuch von Gedenkstätten pädagogisch zu begleiten, vorher wie nachher.
(K)ein Phänomen der Vergangenheit?
Im Museum Arbeitswelt kann man zum Beispiel Workshops der hauseigenen Politikwerkstatt mit Führungen im Stollen der Erinnerung kombinieren.
Die Politikwerkstatt im Museum Arbeitswelt ist innerhalb des Museums ein Ort, an dem Demokratie gelernt werden kann. Dort werden politische Kompetenzen und Selbstbestimmung geschärft. Und das Interesse für demokratische Teilhabe soll geweckt werden. Silke Umdasch arbeitet hier mit Jugendlichen in Workshops:
Ich hab die Erfahrung gemacht, dass ganz viele Kinder überlegen, wie sie selber umgehen würden in der Situation, wenn man Geschichten erzählt und von Personen spricht, die diese Sache durchgemacht haben.
Silke Umdasch
In den Workshops im Museum Arbeitswelt sollen Kinder und Jugendliche – ähnlich wie in Mauthausen – lernen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Gudrun Blohberger, pädagogische Leiterin in Mauthausen, betont, wie wichtig der Gegenwartsbezug beim Erinnerungslernen ist. Das NS-Regime soll etwa nicht als ein Phänomen der Vergangenheit betrachtet werden.
Empathiefähigkeit im Hier und Jetzt
Abseits von Erinnerungsorten, können Zeitzeuginnen und -zeugen wohl am besten vermitteln, was damals passiert ist. Sie haben die Schrecken des Nationalsozialismus und des Holocaust noch selbst erlebt – und vielfach auch überlebt. Einige von ihnen engagieren sich bis heute in ZeitzeugInnen-Programmen. Sie erzählen in Schulklassen, zu Festtagen und geben Interviews. Aber: Sie sind mittlerweile hochbetagt, viele auch bereits verstorben. Sie hinterlassen eine große Lücke im Erinnerungslernen.
Schülerinnen und Schüler sollen mittels Erinnerungsarbeit die Ereignisse der Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung bringen können. Wenn dann auch noch Parallelen zur eigenen Lebensrealität erkannt werden, steigert das die Empathiefähigkeit. Die Vergangenheit ins Hier und Jetzt holen, ist gerade auch deswegen so wichtig, weil Teile der NS-Ideologie unsere Gesellschaft noch immer prägen.
Ein Beispiel: Die Verfolgung Homosexueller. Sie waren auch im Nachkriegsösterreich auf keiner Agenda zu finden. Homosexualität war auch nach dem Zweiten Weltkrieg verboten. Auch der Antiziganismus wird erst jetzt langsam aufgearbeitet.
Antisemitismus erfährt neuen Höhepunkt
Auch aktuell haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das in der Erinnungsarbeit seit jeher viel Platz einnimmt: der israelbezogene Antisemitismus. Mit dem 7. Oktober 2023, dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel und dem darauf folgenden Krieg im Gaza-Streifen erfährt der europäische antiisraelische Antisemitismus einen neuen Höhepunkt. Das Erinnerungslernen in Österreichs Schulen steht vor enormen Herausforderungen. Wie können Lehrkräfte mit der aktuellen Situation am besten umgehen?
Wichtig ist, dass man sich überhaupt dem Thema stellt, dass man als Lehrperson ja nicht immer die Antworten auf alle Fragen haben kann, sondern gerade bei so einem aktuellen politischen Konflikt durchaus eben auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern sagen kann, das weiß ich jetzt auch nicht.
Patrick Siegele
Aber was ist eine angemessene Reaktion auf komplizierte Fragen?
Viele Schülerinnen und Schüler sind durch Videos auf Social Media aufgeladen oder haben Wurzeln und Verwandte in der Region. Sie suchen nach Antworten. Darf man Israels Regierung kritisieren? Ja, in einer pluralistischen Gesellschaft ist die Kritik an einer Regierung legitim. Darf ich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung solidarisch sein? Natürlich, was wären wir für eine Zivilisation, wenn uns das Leid von Kindern nicht berühren würde? Darf ich die israelischen Soldatinnen und Soldaten als Nazis bezeichnen, oder ihren Krieg gar mit dem Holocaust vergleichen? Nein, sagt Patrick Siegele. Es handle sich um eine ganz andere Qualität:
Ich kenne kein vergleichbares Ereignis auf der Welt, wo es eine Wannsee-Konferenz gab, wo sich alle führenden Vertreter der Ministerien der damaligen NS-Regierung zusammengesetzt haben, um systematisch und planvoll die Ermordung von 11 Millionen Juden in Europa zu besprechen.
Patrick Siegele
Richtig oder Falsch?
Dem Erinnerungslernen kommt eine sehr spezifische Bedeutung innerhalb der historisch-politischen Bildung zu. Es ist richtig und wichtig, dass wir Gedenkorte für die politische Bildungsarbeit nutzen. Und dass wir sie in einen Bezug zum Heute setzen. So haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, sich mit der Geschichte von Orten in ihrer Umgebung auseinanderzusetzen.
Es wäre falsch, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs als etwas abgeschlossenes zu betrachten. Die Brücken ins Hier und Jetzt sind wichtig. Schließlich zeigen sie, welche Bedeutung die Erinnerungsarbeit für die Entwicklung demokratischer Kompetenzen hat. Und es wäre auch falsch, wenn Besuche von Gedenkorten nur Interventionen gegen extremistische Positionen sind. Erinnerungslernen funktioniert dann am besten, wenn es in ein pädagogisches Gesamtkonzept eingebunden ist.
Und je früher Kinder einen wohltuenden Widerstand lernen, umso besser können sie stark und groß werden.
Hermine Hauer
Zu Gast in dieser Folge sind:
- Gudrun Blohberger, Pädagogische Leiterin Mauthausen Memorial/KZ-Gedenkstätte
- Hermine Hauer, Lehrerin an der VS & MS Ansfelden, Deutsch, Religion und Bildnerische Erziehung
- Martin Hagmayr, Abteilungsleitung Museum Arbeitswelt, Vermittlungsmanagement, Pädagogik, Vermittlung, Barrierefreiheit
- Silke Umdasch, Vermittlungsmanagement Museum Arbeitswelt, Pädagogik, Vermittlung
- Patrick Siegele, Geschäftsführer ERINNERN:AT
Weiters gibt es zwei O-Töne aus dem Stollen der Erinnerung (mit Höhlen-Ambience) und eine Montage mit Texten von Kindern der VS und NMS Ansfelden
Linktipps:
- DERLA – Digitale Erinnerungslandschaft. Projekt erinnern.at & Uni Graz
- Was bleibt – Film zur Nachbereitung eines Gedenkstättenbesuchs
- polis aktuell 2022/05 – aktuelle Beilage 2023/10 Nahost: Geschichte – Konflikt – Wahrnehmungen (Update nach dem Angriff der Hamas auf Israel)
- Weg von hier – Das Kinderbuchprojekt „Weg von hier…“ möchte zeigen, wie man mit jüngeren Kindern über das Thema Holocaust / Shoa in der Schule oder in der Familie sprechen kann.
- GehDenken 2024 – bei den Aktionstagen Politische Bildung #atpb24
- Stollen der Erinnerung – Eingebettet in einen ehemaligen Luftschutzbunker thematisiert der STOLLEN DER ERINNERUNG die Geschichte Steyrs zur Zeit des Nationalsozialismus.
- Politikwerkstatt – Demokratie Lernen im Museum Arbeitswelt
- Lernen mit Video-Interviews – didaktische Aufbereitung von Video-Interviews mit ZeitzeugInnen für das schulische Setting
- Material zur Holocaust Education in der Volksschule – Marie aus Linz
- Gedenkstätte im Gymnasium am Augarten in Wien
Redaktion: Patricia Hladschik, Nina Schnider, Karl Schönswetter und Ambra Schuster
Alle Folgen finden Sie hier.
Richtig & Falsch ist ein Kooperation von Zentrum Polis – Politik lernen an der Schule, der Arbeiterkammer Wien und Demokratie21.
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