Antisemitismus in Schule und Gesellschaft – Menschenverachtende Haltungen im Unterricht
“Setzt die Kopfbedeckung lieber nicht auf. Schaut, wohin ihr geht. Schaut nach links, nach rechts. Zieht keine Aufmerksamkeit auf euch.” Mit diesen Worten beschreibt Olivia Yan, Lehrerin an der Zwi Perez Chajes Schule in Wien, den Alltag jüdischer Kinder in Österreich.
Antisemitismus hat viele Gesichter – es gibt den Antisemitismus von links, von rechts, den muslimischen Antisemitismus, den Alltagsantisemitismus – und jede dieser Ausprägungen ist in den letzten Jahren in Österreich, in Europa und weltweit angestiegen.
In dieser ersten Folge unserer Doppelfolge „Menschenverachtende Haltungen im Unterricht“ beschäftigen wir uns mit Antisemitismus. In der kommenden Folge beleuchten wir antimuslimischen Rassismus.
Steigende Zahlen: Antisemitismus in Österreich
Die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien registrierte allein im ersten Halbjahr 2024 über 800 antisemitische Vorfälle – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr.
Klaus Davidowicz, Universitätsprofessor für Jüdische Studien und Lehrer für jüdische Geschichte an der Zwi Perez Chajes Schule, hebt hervor:
In den letzten Jahren hat sich der jüdische Alltag verändert. Kinder wachsen mit der Normalität von Sicherheitsvorkehrungen auf, aber diese Normalität sollte uns nicht täuschen. Sie zeigt, dass wir als Gesellschaft noch viel zu tun haben, um jüdisches Leben frei von Bedrohung zu ermöglichen.
Falschmeldungen als Verstärker
Online und offline verbreiten sich viele Falschmeldungen und antiisraelische Narrative. Viele dieser Inhalte knüpfen an alte Feindbilder an und sind im Kern antisemitisch. Die Meldestelle Antisemitismus der Israelischen Kultusgemeinde Wien sieht das Massaker der Hamas als tragischen “Wendepunkt”.
Gabriel Dreier, Geschichtslehrer an einer Mittelschule in Wien, berichtet:
Direkt nach dem 7. Oktober, als ich in meinen Klassen begonnen habe, das Massaker zu besprechen, poppten sofort Meldungen auf: Ich habe auf Social Media das gesehen. Auf Tik-Tok habe ich in einem Video das gesehen. Ich habe gesehen, es ist gefakt. Das Massaker war gefakt.
Hintergründe verstehen: Woher kommen antisemitische Aussagen?
Gabriel Dreier ergriff die Initiative und besprach in seiner folgenden Unterrichtseinheit Falschnachrichten in Sozialen Medien. Mittlerweile bietet er einmal pro Woche eine Social Media Beratungsstunde an. Schülerinnen und Schüler können zu ihm kommen und mit ihm Inhalte besprechen, die ihnen Angst machen oder die sie nicht verstehen.
Bevor Lehrkräfte mit den Schüler:innen über Antisemitismus sprechen, sollten sie zunächst versuchen zu verstehen, woher die Aussagen kommen:
- Basieren die Aussagen auf einer tieferen Überzeugung oder entstehen diese aus einer Gruppendynamik heraus?
- Handelt es sich um einen Versuch, zu provozieren, abzulenken oder um Aufmerksamkeit zu erzeugen?
- Handelt es sich um eine Peergroup von Gleichaltrigen oder kommt das aus dem Umkreis der Familie?
Schließlich muss Kindern und Jugendlichen auch ehrlich gesagt werden, dass Antisemitismus strafrechtliche Konsequenzen haben kann.
Haltung zeigen
Kai Schubert, Politikwissenschaftler, erklärt:
Politische Bildung kann nicht neutral sein, also politische Bildung darf nicht überwältigen. Aber weder ist es geboten, dass eine Lehrerin ihre eigene Meinung versucht völlig auszuklammern aus ihrer pädagogischen Arbeit. Noch muss man sämtliche politischen Positionen, die es irgendwie so gibt, in der Welt gleichberechtigt präsentieren.
Gabriel Dreier ergänzt, dass eine empathische Herangehensweise entscheidend ist:
Man muss mit Schülerinnen und Schülern auf empathische Art und Weise über derartige Dinge sprechen – nicht nur auf vorwurfsvolle oder belehrende Art.
Richtig oder Falsch?
Es wäre falsch zu denken, dass wir das Phänomen des Antisemitismus schnell in den Griff bekommen können. Leider ist dieses Vorurteil zu tief verankert.
Es ist richtig, dass wir mit dem Wissen über die Codes und Triggerpunkte, die richtigen Argumente in der Hand haben, um Falschaussagen rechtzeitig begegnen zu können.
Es wäre falsch zu denken, dass wir die Kinder und Jugendlichen mit ihren Fragen alleine lassen können, indem wir uns auf eine vermeintlich neutrale Position zurückziehen.
Es ist richtig zuzugeben, dass die Lage verworren und komplex ist und dass wir uns im Prinzip einfach darauf einigen sollten, miteinander in Ruhe und Frieden zu sprechen.
Zu Gast in dieser Folge sind:
- Klaus DAVIDOWICZ, Universitätsprofessor für Jüdische Studien und Lehrer für jüdische Geschichte an der Zwi Perez Chajes Schule
- Gabriel DREIER, Begleitteam der Israel-Seminarreisen von erinnern.at und Mittelschul-Lehrer in Wien, www.erinnern.at
- Kai SCHUBERT, Politikwissenschaftler, Doktorand im Bereich Didaktik der politischen Bildung an der Justus Liebig Universität in Gießen. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für öffentliche und private Sicherheit an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin.
- Olivia YAN, Lehrerin für jüdische Geschichte an der Zwi Perez Chajes Schule
Linktipps:
- Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG)
- ZARA – Zivilcourage und Antirassismus-Arbeit
- Lernheft: „Ein Mensch ist ein Mensch“. Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was…
- Mit Bildung gegen Antisemitismus – aber wie? Strategien und Herausforderungen der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit
- Beratungsstelle Extremismus
- DERAD Workshop 4: Antisemitismus, Antijudaismus (antimuslimische Ressentiments, Rassismus) und muslimisch-jüdischer Dialog
- Krisenspuren – Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit (Video und Tookit, Sapere Aude, 2023)
- Israelbezogener Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Bildung. Analysen und didaktische Impulse, Opladen: Budrich Verlag 2024 (Kai Schubert, Elizaveta Firsova-Eckert) [verfügbar im Open Access].
- Das ESRA-Team zum Umgang mit antisemitischen Vorfällen
- Comic “Mehr als zwei Seiten”
Redaktion: Patricia Hladschik, Nina Schnider, Karl Schönswetter und Johanna Hirzberger
Alle Folgen finden Sie hier.
Richtig & Falsch ist ein Kooperation von Zentrum Polis – Politik lernen an der Schule, der Arbeiterkammer Wien und Demokratie21.
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