Chancengerechtes Klassenzimmer: Vom Rand in die Mitte
Scham und Beschämung kommen in der Schule in den unterschiedlichsten Facetten vor. Fast immer hängen sie aber mit der sozioökonomischen Herkunft der Kinder zusammen. Soll man als Lehrkraft Situationen, in denen es zu sozialer Beschämung kommt, ansprechen? Wenn ja, wie gelingt das, ohne einzelne Schüler*innen erst recht ins Eck zu stellen oder am Ende selbst Teil des Problems zu werden? Und wie kann ich das Thema im Rahmen der Politischen Bildung ansprechen?
Herkunftsscham
Claudia Connolly unterrichtet an einem Gymnasium in Floridsdorf Französisch, Geschichte und Politische Bildung. Im Gespräch erinnert sie sich an verschiedenste Situationen, in denen Schüler beschämt worden sind. Wegen ihrer Kleidung, ihrer Sprache, ihres Aussehens, ihres Namens, ihrer Schultasche oder eben ihres Handys. Oft passiert das auch ganz unbeabsichtigt durch die Lehrerin selbst.
Scham ist nichts anderes als die Bedrohung meines eigenen Ansehens. Wir wollen als Person gesehen werden und nicht als der oder die, zu der uns wer anderer macht, sagt Martin Schenk.
Die Soziologin Laura Wiesböck erzählt, dass Kinder gesellschaftliche Werte und Normen schon sehr früh übernehmen. Wenn also in unserer Gesellschaft Armut strukturell beschämt wird, zum Beispiel in Fernsehsendungen, dann prägt das auch Kinder und Jugendliche.
Häufig werden Missachtungserfahrungen über prestigeträchtige Produkte kompensiert. Dass man sich ein teures Handy kauft oder Markenkleider, dient oft dazu, den Selbstwert wieder herzustellen, erzählt Laura Wiesböck.
Scham ist also immer eng mit Selbstwert, Status und dem eigenen Ansehen verbunden. Das Gegenteil von Scham ist demnach Anerkennung. Und die sollte im Klassenzimmer ja eigentlich gefördert werden. Was man nämlich weiß: Wenn sich Schülerinnen und Schüler dauernd schämen oder beschämt werden, schadet ihnen das ganz einfach.
Scham kann zu Apathie und Resignation, von Rückzug bis hin zu körperlichen Beschwerden führen, die gemindert werden könnten, wenn man achtsam mit dem Thema umgeht, findet Laura Wiesböck.
Hinzu kommt, dass bei Kindern, die sich zum Beispiel wegen ihres sozialen Status schämen, die Noten schlechter sind.
Wenn Schüler*innen wegen ihrer sozioökonomischen Stellung beschämt werden, ist das belastend. Die Problematik nicht ansprechen und Situationen einfach so stehen lassen, sollte also nicht die Lösung sein.
Veronika Goller ist seit 26 Jahren Volksschullehrerin und hat von der kleinen Landschule bis zur Schule in Gürtelnähe schon überall unterrichtet. Sie ist auch in der Lehrer*innenausbildung tätig. Wie geht sie damit um, wenn sich schon Volksschüler*innen gegenseitig verspotten wegen dem, wie sie aussehen oder was sie anhaben?
Über Fähigkeiten kann man Benachteiligungen Wettmachen – auch über die Unterschiede von Personen – der eine ist dünn, die andere groß, der andere breit, das ändert nichts am Umstand, ob das eine nette Person ist. Wenn man das gebetsmühlenartig bei diversen Anlässen immer wieder zur Geltung bringt, sitzt das irgendwann, erzählt Veronika Goller.
Simone Peschek sagt, dass sie am Anfang oft überfordert war mit Konfliktsituationen unter Schüler*innen. Mittlerweile hat sich das geändert:
Ich habe gelernt, Probleme sofort anzusprechen – sonst wird man bis zu einem gewissen Grad Mittäterin, wenn man daneben steht und einfach nur zuschaut. Ungleichheit und Herkunftssituationen zu thematisieren ist sehr wichtig, sprachliche oder sozioökonomische Hintergründe sind Dinge, die wir immer wieder thematisieren.
Vorbildfunktion
Wir alle kennen das aus unser eigenen Schulzeit. Lehrerinnen und Lehrer haben immer ihre Lieblinge gehabt. Oft lässt sich das wohl nicht vermeiden. Mit gewissen Schüler*innen ist man eben mehr auf einer Wellenlänge als mit anderen. Aber zumindest kann man sich die Frage stellen, warum das so ist und vielleicht bewusst entgegensteuern.
Am Ende haben sich alle die gleichen Chancen verdient. Jedes Kind zählt. Ohne seine Geschichte. Das Kind kommt in die Schule und will gefüllt werden mit Lehrinhalten und will wahrgenommen werden als Person, findet Veronika Goller.
Lehrer*innen haben eine Vorbildfunktion, wenn man als Lehrkraft Kinder bevorzuge, weil sie einem näher seien, würden das auch Kinder untereinander machen. Etwa Geldthemen wie Förderungen für Schulskikurse sollten immer unter vier Augen besprochen werden und nicht am Elternabend, meint Martin Schenk.
Scham braucht die Öffentlichkeit, sagt Martin Schenk.
Fast immer gibt es leider Schüler*innen, die sich zum Beispiel Projekttage nicht leisten können. Damit sie nicht bloßgestellt werden, braucht es viel Fingerspitzengefühl.
Veronika Goller hat an ihrer Schule durchgesetzt, dass Eltern nicht immer einen „Beweis ihrer Armut“ erbringen müssen, damit sie zum Beispiel Geld vom Elternverein bekommen. Auch um Hilfe bitten, hat viel mit Scham zu tun.
Zeig, dass du’s kannst. Oder, ich glaub an dich. Das sind Sätze, die jeder von uns gerne hört und die ein gutes Gefühl geben.
Fassen wir zusammen:
Es ist jedenfalls falsch, soziale Beschämung in Unterricht nicht anzusprechen. Soziale Beschämung und Kränkungen werden sich nie ganz verhindern lassen. Es ist also falsch, es einfach nicht anzusprechen, wenn Schüler beschämt werden. Das gehört thematisiert und für Chancengerechtigkeit sensibilisiert. Zum Beispiel, indem der Blick auf positive Eigenschaften und Fähigkeiten des oder der jeweiligen gelenkt wird. Es hilft auch, sich Gedanken über die eigene Herkunft und Haltung zu machen. Außerdem kann ich im Rahmen meiner Möglichkeiten ausgleichend wirken. Indem ich etwa kreativ bin, wenn es ums Geld beschaffen geht oder meine Schüler, so gut es geht, empowere. Letzteres ist wohl das Wichtigste. Und das nicht nur in politischer Bildung, sondern quer durch in alle Fächer.
Ambra Schuster im Gespräch mit:
- Claudia Connolly, Lehrerin am Ella-Lingens-Gymnasium in Wien Favoriten
- Veronika Goller, Lehrerin an der Volksschule Wolkersdorf & Pädagogische Hochschule Wien
- Simone Peschek, Lehrerin in Wien Simmering
- Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Armutskonferenz
- Laura Wiesböck, Soziologin
Links:
- Leitfaden: Tu was gegen Beschämung!
- “Martin Schenk: Soziale Ungleichheit und Gesundheit”
In: polis aktuell 3/2021: Public Health - Laura Wiesböck
- Schulpsychologische Beratung
Hören Sie hier eine weitere Folge von Richtig und Falsch: Akut politisches Klassenzimmer – zwischen Corona, Terror und Verschwörungstheorien
Alle Folgen finden Sie hier.
Richtig und Falsch ist ein Kooperation von Zentrum Polis – Politik lernen an der Schule, Demokratie21 und der Arbeiterkammer Wien.
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