Demokratie im Wandel – Welche Werte braucht die Politische Bildung?
“Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren” heißt es schon in der Menschenrechtsdeklaration. Freiheit, Gleichheit und Solidarität bilden das Fundament unserer Demokratie. Darüber gibt es so weit breiten Konsens. Noch. Denn die letzten Jahre haben gezeigt, wie schnell Demokratien brüchig werden und ins Wanken kommen können. Rechte Strömungen, die Entsolidarisierung mit den Schwächsten in der Gesellschaft und das sinkende Vertrauen in Institutionen tragen ihren Teil dazu bei. All das nagt an unseren Werten.
Wie können Werte in der Politischen Bildung vermittelt und diskutiert werden? Was fällt da überhaupt rein in diese “Werte”? Und warum ist der Begriff oft so aufgeladen?
Es steht ja nicht immer überall in Großbuchstaben Werte drauf, wo dann Werte drinnen sind.
Patricia Hladschik
So sind wir
Der Begriff Werte kommt im politischen Diskurs häufig vor. Und meistens verhalten wir uns so, als würden wir eh alle dasselbe meinen. Als gäbe es ohnehin ein gemeinsames Verständnis, was man unter einem bestimmten Wert versteht.
Werte können nicht einfach auswendig gelernt und befolgt werden. In der Vermittlung im Unterricht entsteht aber oft genau dieser Eindruck, als wären Werte eine Art Prüfungsstoff. Dabei geht es um etwas ganz Anderes: Die Werte eines Menschen – oder auch einer Partei – sind unmittelbar mit seinen politischen Handlungen verbunden. Unterschiedliche Werte bedeuten unterschiedliche Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme. Diesen Zusammenhang entschlüsseln und einordnen zu können – dabei soll Schülerinnen und Schülern geholfen werden.
Werte auszublenden oder dem Ethik- oder Philosophieunterricht zu überlassen, wäre fatal. Man würde Werte und ihre Aushandlungsproblematik im Politischen verstecken und der Politischen Bildung entziehen.
Christoph Kühberger
In Österreich werden Werte gerne mit dem Satz “So sind wir” gleichgesetzt. So tickt der Österreicher, die Österreicherin. Und dieses und jenes ist uns wichtig. So ein – recht enges – Verständnis von Werten kann aber ziemlich ausgrenzend sein, sagt Philipp Mittnik von der Pädagogischen Hochschule Wien. Er ist Obmann der Interessengemeinschaft Politische Bildung:
Bei uns gibt es Gewalt, es gibt Alkoholismus, es gibt religiösen Extremismus. Das ist ein Abbild der Gesellschaft. Ich glaube, das Wichtigste in der Schule in Bezug auf Werte müsste sein, dass man diesen indoktrinierten Wertekanon hinterfragt und dekonstruiert. Das heißt, man soll damit aufhören, so zu tun, als wüsste man, was unter Werten verstanden wird.
Der Begriff Werte kann einen schalen Beigeschmack haben. Lara Möller vom Arbeitsbereich “Didaktik der Politischen Bildung” an der Universität Wien fühlt sich deshalb bei der Verwendung des Begriffes nicht wohl:
Werte sollten gerade in einer Demokratie nicht statisch sein, sondern sollten was Dynamisches haben.
Lara Möller
Wir reden zwar gerne von zentralen politischen und demokratischen Werten wie Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. Und wir tun so, als wären das ganz klar definierte, klar abgegrenzte Konzepte. Aber das stimmt so nicht ganz. Werte entwickeln sich laufend weiter – und sie werden von jedem und jeder Einzelnen individuell, aber auch von jeder Gruppe, einer sozialen oder einer politischen Gruppe, immer wieder anders interpretiert.
Werte-Bildung, nicht Werte-Erziehung
Wenn es um Werte geht, kann es manchmal ganz schön hitzig werden – auch in der Schule. Wenn Werte diskutiert werden, bringt uns das nämlich ganz nahe an das Emotionale in der Politik. Sie werden selten rein sachlich verhandelt – egal ob in der Politik, im medialen Diskurs, am Stammtisch oder in der Familie.
Im Klassenzimmer kann das für Lehrkräfte ein heikler Balanceakt sein. Umso mehr sollen Lehrkräfte ihre subjektive Wahrnehmung hinterfragen und reflektieren, meint Robert Hummer von der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Er plädiert dafür, im Unterricht Wertebildung vorzunehmen und nicht Werteerziehung. Das heißt, Wertvorstellungen sollen nicht einfach “aufs Auge gedrückt” werden. Unterschiedlichste Wertvorstellungen sollen viel mehr zugelassen und im Unterricht diskutiert werden.
Wichtig wäre, gute Themen auszuwählen, bei denen es unterschiedliche Meinungen, Haltungen, Standpunkte oder kontroverse Sichtweisen geht, hinter denen wiederum kontroverse Wertverständnisse stehen.
Robert Hummer
Der politische Kompass
Wann ist der Begriff “Wert” fehl am Platz? Ab wann handelt es sich um eine radikale Strömung im politischen Diskurs? Ein geeignetes Tool, um Schüler:innen genau das zu vermitteln, ist der “Politische Kompass”. Andreas Petrik von der Universität Halle erklärt darin, wie man die Grenze zwischen demokratischen und nicht demokratischen Werten sichtbar machen kann.
Der politische Kompass ist eine Matrix mit vier Himmelsrichtungen. Am Ende einer jeden Himmelsrichtung befindet sich ein politischer Wert:
- Im Norden ist das der Wert der Selbstbestimmung, der in der extremen Ausformung zum radikalen Egoismus führt.
- Im Süden steht die Autorität mit der extremen Ausformung von Diktatur und Nationalismus.
- Im Westen befindet sich die Soziale Gleichheit mit ihrer extremen Ausformung von Zwangskollektivierung.
- Und dem gegenüber steht im Osten die Wirtschaftsfreiheit, mit ihrem Extrem, nämlich dem “Recht des Stärkeren”.
- Stalinismus, Faschismus, Anarchismus und Marktfundamentalismus kann man auf diesem Kompass dann in den jeweiligen Ecken von etwa Südost bis Nordwest finden.
- Und der demokratische Diskurs? Der findet im Feld, das von der Mitte bis an die Grenzen der extremen Ränder reicht, statt.
Eine gründliche Auseinandersetzung mit demokratischen Werten im Unterricht kann Schüler:innen dabei helfen, selbst eine demokratische Identität zu entwickeln. Über Werte diskutieren funktioniert also umso besser, je öfter man’s macht. Und je mehr Schüler:innen auch erkennen, dass diese Diskussionen etwas mit ihrer tatsächlichen Lebenswelt zu tun haben.
Richtig oder Falsch?
Es ist richtig, dass “Werte” – alleine schon der Begriff – schwer zu fassen sind. Umso wichtiger ist es deshalb, konkret zu werden. Und etwa einzelne Werte anhand aktueller gesellschaftspolitischer Fragen durchzudiskutieren. Schülerinnen und Schüler sollen unterschiedliche Wertvorstellungen bestmöglich einordnen können. Und wissen, dass Werte nichts Statisches und Absolutes sind.
Genau deshalb wäre es auch falsch, von vornherein von “guten” und “schlechten” Werten zu sprechen – und sie quasi als Prüfungsstoff abzufragen. Die eigene Wertehaltung will erarbeitet werden und darf nicht verordnet werden. Aber: Das heißt nicht, dass Lehrkräfte im Klassenzimmer wertneutral bleiben müssen. Im Gegenteil – gerade wenn antidemokratische Werte Thema werden, müssen sie sich klar positionieren.
Ausgangspunkt für diese Podcast-Folge ist eine Tagung der Interessengemeinschaft Politische Bildung, die im September 2022 an der Uni Graz und der Pädagogischen Hochschule Graz stattgefunden hat. Ihr Titel: “Demokratie im Wandel – Welche Werte braucht die politische Bildung?“
Zu Gast in dieser Podcast Folge sind:
- Patricia Hladschik (Zentrum polis – Politik Lernen in der Schule)
- Robert Hummer (Politik- und Geschichtsdidaktiker an der PH Salzburg)
- Christoph Kühberger (Professor für Geschichts- und Politikdidaktik an der Universität Salzburg)
- Philipp Mittnik (Zentrum für Politische Bildung der PH Wien)
- Lara Möller (Arbeitsbereich “Didaktik der Politischen Bildung” an der Universität Wien)
- Andreas Petrik (Didaktik der Sozialkunde/Politische Bildung, Universität Halle)
Linktipps
Demokratie im Wandel. Welche Werte braucht die Politische Bildung?
Die Folien aller Vorträge der 13. Jahrestagung der Interessengemeinschaft Politische Bildung finden sich hier
Beutelsbacher Konsens
- Text zur Entstehung und Wirkung dieses wichtigen Grundlagendokuments der Politischen Bildung
- Text des Beutelsbacher Konsens in unterschiedlichen Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Ukrainisch, Polnisch)
Kontroverse Themen unterrichten
Zusammenstellung von Materialien auf der Website von Zentrum polis
Das Buch der Entscheidungen und das Buch der Werte
Unterlagen des Österreichischen Jugendrotkreuzes zur Wertebildung
Wertevermittlung am Beispiel Frieden: Reflexion oder Überwältigung?
Redaktion: Patricia Hladschik, Nina Schnider, Karl Schönswetter und Ambra Schuster
Alle Folgen finden Sie hier.
Richtig und Falsch ist ein Kooperation von Zentrum Polis – Politik lernen an der Schule, der Arbeiterkammer Wien und Demokratie21.
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